Anne- Marie Vermaat ist Expertin in „Verliescommunicatie“. Nun, auch wenn sie diesen Begriff ins Deutsche übersetzt mit „Verlustkommunikation“ steht ihrem Gegenüber –in der Regel- erst einmal ein dickes Fragezeichen auf der Stirn.
„ Jeder Verlust trägt Trauer in sich“, erklärt sie dann. „Dabei spielt es keine Rolle, ob es der Verlust eines geliebten Menschen ist, ein vertrautes Haustier. Trauer über einen Verlust kann es bei der Arbeit geben, wenn ein guter Kollege stirbt, wenn es einen tragischen Unfall gab oder wenn es um den Verlust des Arbeitsplatzes geht. Tiefgehende Trauer kann man empfinden wenn man krank wird, wenn man sich von einem Lebenstraum für immer verabschieden muss. Darüber muss man sprechen, das muss man bearbeiten, sonst löst sich Trauer ein Leben lang nicht auf.“
„Wat niet ophoudt pijn te doen
blijft in je herinnering,
je raakt het niet zomaar kwijt“
„Was nicht aufhört, Dir wehzutun, bleibt dir in Erinnerung,
das geht nicht mal so einfach weg“ (übersetzt)
Es gibt kaum jemanden, der Anne-Marie Vermaat im Netzwerk nicht kennt. Sie gehört mit zu den „frühen“ Mitgliedsfrauen und sie lässt bis heute kaum eine Gelegenheit aus, bei den Netzwerkabenden, Jours fixes, gemeinsamen Reisen und sonstigen Aktivitäten mit von der Partie zu sein.
Wie kommt eine Niederländerin dazu?
Das kam so: Als neues Netzwerk für Selbständige Frauen und weibliche Führungskräfte im niederrheinischen Raum hat das unternehmerinnen forum niederrhein schon sehr bald nach seiner Gründung Signale ins nahe Holland ausgesandt, um Kontakte zu niederländischen Unternehmerinnen-Netzwerken aufzunehmen.
Der Einladung zum Vortrag „Mind The Difference – internationale Geschäftskulturen unter die Lupe genommen“ waren erfreulicherweise einige Frauen aus unterschiedlichen niederländischen Business-Netzwerken gefolgt und Anne-Marie Vermaat war eine von ihnen. Und sie blieb! Das war 2007.
Menschen! Das ist ihr Lebensthema und sie hat es zu ihrem Arbeitsthema gemacht. Nicht geradeaus, aber letztlich doch immer wieder konsequent angesteuert.
Ein pralles intensives Leben voller (Selbst-)Erfahrung. Jahrgang 45, in eine gut situierte Familie hineingeboren, zwei Brüder und erklärtes Lieblingskind des Vaters und ihrer Tante Hubertien. Was macht so eine Tochter? Sie geht in eine Höhere Hauswirtschaftsschule, heiratet früh einen jungen Mann mit vielversprechender Karriere und bricht die Ausbildung ab. Sie wird schwanger, der Junge stirbt bei der Geburt. Sie ist 22 Jahre alt und hat ihren neugeborenen Sohn nie gesehen. Die Familie will sie (und sich) schützen und niemand spricht mit ihr über diesen kaum fassbaren schrecklichen Verlust. Die beiden Töchter Margot und Hubertien folgen. Ein komfortables ruhiges Familienleben, so scheint es. Sie arbeitet in Teilzeit in einem Vorkindergarten. Doch da ist die andere Anne-Marie, eine junge Frau, die in ihrem Inneren genau spürt, dass sie ihr Leben anders leben muss, um sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie beginnt in einem ersten Schritt Englisch zu studieren.
1985 folgt die Scheidung: „Letztendlich war es aus meiner Sicht nur konsequent. Es hat nicht funktioniert. Wir haben alles zugedeckt. Mein Mann dachte immer noch, dass doch alles gut sei. War es aber nicht. Meine beiden Töchter, damals schon Teenager, blieben bei meinem Mann wohnen und das war das Beste, was allen passieren konnte. Er war und ist ihnen immer noch ein fantastischer Vater“, da ist sich Anne-Marie Vermaat heute noch sicher.
Die Trennung war für sie wie ein Befreiungsschlag. Sie bezieht ihre erste eigene Wohnung, unterrichtet in einer Bildungseinrichtung Englisch. „Da habe ich gemerkt: Ich kann gut mit Menschen, ich kann mich in sie versetzen, etwas in ihnen anrühren, sie bewegen und motivieren.“ Sie fängt an, in Rotterdam an der Sozialakademie zu studieren. Nach 3 Jahren hat sie ihren Bachelor in der Tasche. Sie arbeitet nun in einem Beratungsprogramm für Arbeitslose.
Parallel hierzu leistet sie viel eigene Therapiearbeit und damit kommt sie auch ihrem Lebensthema immer näher. „Zu dieser Zeit begleitete mich eine tolle Frau als persönlicher Coach, der ich mich bis heute noch sehr verbunden fühle.“ Hinzu kommen über die Jahre zahlreiche Aus- und Fortbildungen zum Coach und zur Therapeutin. „Ich bin dann an eine private postgraduale Ausbildung in Groningen gegangen, weil ich dort die Meisterklassen von Professor Herman de Mönnink besuchen konnte.“ Verlieskunde ( auf deutsch etwa ‚Verlustkunde‘) ist dort Teil der Sozialwissenschaflichen Ausbildung Dort habe ich noch einmal mehr darüber gelernt, mit welchen Methoden das Thema „Verlust und Trauer“ individuell bearbeitet werden kann.“
Anne-Marie Vermaat ist überzeugte Netzwerkerin. Seit 1997 ist sie selbständig. Über die Jahre entwickelt sie ihr persönliches professionelles Netzwerk und arbeitet erfolgreich als Coach mit unterschiedlichen Institutionen und Unternehmen zusammen. Auch in Deutschland. „Ich habe glücklicherweise nie Werbung machen müssen, meine Aufträge kamen immer öfter über persönliche Empfehlungen.“
Sie lernt Wijnand Boer kennen, einen Bestattungsunternehmer und Kommunikationsberater, der auch über Umwege zu seiner Berufung gefunden hat. Die beiden werden ein Paar. „Wijnand hat in seiner täglichen Arbeit immer wieder festgestellt, dass die Menschen oft nach einer Beerdigung allein gelassen sind mit dem Verlust, den sie erlitten haben. Mit der Beerdigung ist die Verlustarbeit aber lange nicht abgeschlossen. Und viele Menschen überwinden diese Verluste nie. Wir haben uns überlegt, wie ein Konzept für eine wirkungsvolle Nachsorge aussehen könnte.“
Wijnand und sie arbeiten kongenial zusammen. Sie ist die Frau, die nach „draussen geht“, die mit den Menschen arbeitet, er ist der Mann im Hintergrund, kümmert sich um alles Geschäftliche und Organisatorische. Ihr Nachsorgekonzept wird ein Erfolg. Einige Zeit nach der Beerdigung bekommt der oder die Angehörige einen Brief mit dem unverbindlichen Angebot für ein Telefongespräch oder einen Besuch. „Wenn kein Rede- oder Handlungsbedarf besteht, ist das in einem kurzen Telefonat erledigt, gab es jedoch das Bedürfnis, hier individuell weiter zu sprechen, dann ging der Kontakt weiter“, so Anne-Marie Vermaat.
„Was ist deine Frage, was führt dich zu mir?“
„Was ist deine Frage, was führt dich zu mir?“ Die Suche nach dem individuellen Bedürfnis ist seit über 20 Jahren immer noch mein zentraler Punkt. Ich sage nie, dass etwas so und so sein muss, das will ich von meinen Klientinnen und Klienten hören. Ich berate klientenzentriert, multimethodisch und systemisch-sozial, ich höre vor allem zu. Doch ich kann auch gut an andere Fachleute abgeben, wenn ich merke, dass hier etwas anderes zu bearbeiten ist. Da kenne ich meine Grenzen. Es gibt bei mir selten mehr als 5 Sitzungen in einer Verlusttherapie, in denen ich versuche, gemeinsam mit den Menschen Lösungen zu entwickeln. Dabei setze ich darauf, emanzipierend und stressreduzierend zu arbeiten. Ich will die Energie meines Gegenübers wieder in Gang setzen.“
‚Verluste gehören zum Leben und entstehen, jedoch entscheidend ist
dass die Kommunikation in diesen Krisensituationen erhalten bleibt.‘
Wijnand Boer war es auch, der Anne-Marie zum Schreiben brachte. 2001 erschien ihr Buch „Lieverd, ik mis je zo“ (die deutsche Ausgabe ‘Liebling, du fehlst mir so’ kam 2008 auf den Markt‘), in dem sie ihre Erfahrungen mit Betroffenen verarbeitet. Wijnand Boer und sie heiraten, als er die erste, wenig Hoffnung machende Krebsdiagnose erhält. Die Therapie schlägt an, Wijnand gilt als geheilt, es geht weiter.
Sie entwerfen eine kleine Anstecknadel, die die Trägerin oder den Träger als jemanden ausweist, der an einem Verlust trägt. „Es gibt ja kaum noch äußere Anzeichen der Trauer. Die Farbe Schwarz ist ja heute Modefarbe. Aber mit unserer kleinen Brosche erkennen sich die betroffenen Menschen und kommen so leicht in Kontakt.“
Das Thema Verlust und Trauer hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung in den Human Ressource Abteilungen der Unternehmen gewonnen. Die Erkenntnis wächst: Verlust macht psychosomatisch krank. Ursachen gibt es viele, in jedem Alter und in allen Gesellschaftsschichten. Unternehmen müssen hierfür mehr Verantwortung übernehmen. Doch der wirkliche Bedarf ist viel höher, da ist sich Anne-Marie Vermaat sicher: „In den Niederlanden ist man eigentlich offen für solche Themen, trotzdem werden bisher noch viel zu wenige Unternehmensleitungen aktiv.“
Verlust macht psychosomatisch krank.
Ursachen gibt es viele, in jedem Alter und in allen Gesellschaftsschichten.
Betriebsärzte und Betriebsräte holten sie in Unternehmen und Behörden, um Trainings mit Führungskräften oder Teams durchzuführen. Sie wird eine gefragte Interviewpartnerin, als Rednerin und Expertin ins Fernsehen, zu Kongressen und Veranstaltungen eingeladen. „Ich werde nie vergessen, wie aufgeregt ich war, als ich vor mehr als 500 Menschen – internationalem Publikum -sprechen sollte und ich immer wieder überlegte, wie fange ich an, über Verlust zu sprechen? Mit rasendem Herzklopfen habe ich angefangen „Tears in Heaven“ von Eric Clapton zu singen. Alle haben verstanden und am Ende mitgesungen.“
Wer jetzt nach all dem denkt, da kommt eine Frau daher, die die ganze Trauer und das Leid der Welt auf ihren Schultern trägt, irrt gewaltig. Anne-Marie Vermaat ist eine überaus präsente Frau, die herrlich lachen und rumalbern kann, eine Menge Humor hat, das Leben genießt, sie ist jemand, der sich selbst und anderen so viel Lebensfreude bringt. Viel gereist, unternehmungslustig und offen für alles, was das Leben an Gutem und Neuem bereithält.
„Ich habe meine Bestimmung gefunden. Ich weiß, dass ich für das,
was ich tue, auf der Welt bin.“
Ihre jüngere Tochter Hubertien kommt ins Spiel, als sie mit Ende 60 etwas kürzer treten will. Gemeinsam entwickeln und realisieren sie Seminare, Trainings und Veranstaltungen. Als Wijnand Boer 2015 nach längerer Krankheit stirbt, weiß sie zwar, wie man professionell mit einem solchen Verlust umgeht, die Trauer trifft sie trotzdem mit aller Wucht. Anne-Marie braucht Zeit, um dann in einem langen Brief Abschied von ihm zu nehmen, ihn loszulassen. Der Brief ist jetzt in der neu überarbeiteten 5. Auflage ihres Buches zu finden.
„Darüber bin ich auch wieder ein Stück weit zum Schreiben gekommen. Auf Anregung einer Regisseurin aus Harlem habe ich meine „Krebsmonologe“ geschrieben. Impulsgeber war die Theateraufführung der „Tumoristen“, einer Berliner Theatertruppe, die „Playback- und Improvisationstheater“, , die ich gesehen und die mich sehr beeindruckt haben. Ich habe in Holland die Proben meines fertig gestellten Stückes gesehen und fand es für mich sehr berührend. Es wäre so schön, wenn dieses Stück zur Aufführung käme.“
Mit jetzt 74 Jahren ist also noch lange nicht Schluss. Anne-Marie Vermaat ist nach wie vor gemeinsam mit ihrer Tochter als Dozentin an einer privaten postgraduale Ausbildung für medizinisches und paramedizinisches Personal in Soest (Niederlande) aktiv, die Coachings hat sie etwas zurückgefahren, ist jedoch als Coach weiter bei den unternehmensentwicklern gelistet. Über lange Zeit hat sie am Goethe-Institut Deutsch in Rotterdam und Berlin gelernt und mit dem D2-Niveau abgeschlossen, aktuell ist sie als Studentin an der Rotterdamer Erasmus Universität für das Fach ‚Soziale Psychologie und Management und Philosophie ‘ eingeschrieben. „Beruflich habe ich noch ein Ziel: eine eigene Kolumne oder einen Bestseller! Das hätte ich echt gerne. Es gäbe doch noch viel zu sagen.“
Und privat? Anne-Marie Vermaat’s Augen strahlen: „Nach zweieinhalb Jahren kam Egbert in mein Leben. Wir haben uns nicht gesucht und doch gefunden. In einer Vorlesung an der Uni! Und weißt Du was? Wir sind so etwas von verliebt!“
Gabriele Coché-Schüer